Meeresvielfalt in Gefahr

Die Hälfte der Korallenriffe ist bereits verloren - AWI-Experte über die Bedeutung der marinen Artenvielfalt

Die Ozeane haben für uns Menschen eine ähnliche Bedeutung wie unsere Ökosysteme an Land. Da Veränderungen unter Wasser viel weniger sichtbar sind als an Land, war es umso wichtiger, die Ozeane im Fortschrittsbericht des Weltbiodiversitätsrates (IPBES), der am 16. Mai 2019 veröffentlicht wurde, gleichermaßen zu berücksichtigen.

Ein Kommentar stammt von Julian Gutt, einem der Hauptautoren des Berichts und Meeresbiologe am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI):

Die Ozeane bedecken 71 Prozent der Erdoberfläche; ihre Ökosysteme sind in etwa so vielfältig an Lebensformen wie an Land und genauso wichtig für viele Menschen. Gerade weil ich selbst wissenschaftlich mit bildgebenden Verfahren, Unterwasserfotografie und Video arbeite, bin ich immer wieder beeindruckt von der Vielfalt der Formen und des Lebens in den Ozeanen. In seinem ersten Global Assessment Report hat sich der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) mit der Frage beschäftigt, wie es um die Vielfalt des Lebens auf der Erde bestellt ist und wie wir damit umgehen. Schließlich sind wir alle auf die Leistung von Pflanzen und Tieren angewiesen - sei es als Nahrung, als Rohstoff, für den Klimawandel oder als Medizin - und wir brauchen Mikroorganismen für das Nährstoffrecycling und die Gesundheit. Die Ozeane spielen dabei eine entscheidende Rolle. Eine Milliarde Menschen ernährt sich hauptsächlich von Fisch und anderen Meeresfrüchten, und der Ozean deckt über 20 Prozent unseres weltweiten Proteinbedarfs. Die Hälfte des Sauerstoffs, den wir atmen, wird ständig von Algen in den Ozeanen produziert.

Wir befinden uns also in einer Art Zwickmühle. Wir müssen in die natürlichen Ökosysteme eingreifen, um zu überleben, aber wir müssen diese Nutzung so nachhaltig gestalten, dass sie in einer intakten Umwelt auch für die nächsten Generationen gewährleistet ist. Der neue Bericht des Weltbiodiversitätsrats zeigt, dass wir dazu derzeit nicht in der Lage sind und schnell umsteuern müssen, um noch massivere Schäden zu vermeiden.

Der Zustand der marinen Ökosysteme ist auf den ersten Blick nicht so offensichtlich wie an Land, deshalb werden die Öffentlichkeit und die Entscheidungsträger in dem Fortschrittsbericht auch speziell über die Ozeane informiert. Der Mensch hat die Ozeane in den letzten 150 Jahren stark verändert. Schon heute ist die Hälfte aller Korallenriffe durch menschliche Eingriffe in die Natur zerstört worden. Ganze Korallenriffe in tropischen Flachgewässern sind noch relativ gut sichtbar, nicht aber die Kaltwasserkorallen und Schwammriffe der Tiefsee, die durch Fischerei und Vermüllung bedroht sind. Ähnlich wie die Eisbären, deren Lebensraum durch den Klimawandel verloren geht, sind die Korallenriffe ein Symbol der Artenvielfalt. Doch genau wie in der Arktis sind nicht nur die Eisbären betroffen, sondern auch eine Vielzahl von Vögeln, Meeressäugern und Kleintieren. Daher ist der Artenverlust in den Ozeanen wahrscheinlich viel weitreichender, als wir dokumentieren können.

Aus der Fläche der zerstörten Korallenriffe und den erwarteten weltweiten Verlusten bis zum Ende des Jahrhunderts können wir ableiten, dass die Zahl der ausgestorbenen Arten hoch ist und weiter steigt. Anders als an Land gibt es für diese dunkle Zahl nicht einmal Hochrechnungen. Wir wissen auch oft nicht, welche möglicherweise wichtige Funktion andere Meerestiere und -pflanzen hatten oder noch haben die meisten ausgestorbenen oder gefährdeten Arten im marinen Ökosystem, denn die langfristige Beobachtung mariner Nahrungsnetze ist sehr aufwändig und teuer. Aber so wie die Bienen an Land für die Bestäubung vieler Pflanzen unerlässlich sind, gibt es auch im Meer eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen den Arten. Und selbst bei Arten, die noch nicht ausgestorben sind, ist der menschliche Einfluss laut IPBES-Bericht erheblich. Ein Drittel der Fischbestände, die wir nutzen, sind überfischt oder bereits zusammengebrochen. Experten schätzen, dass der Klimawandel das weltweite Algenwachstum um bis zu 10 Prozent und das Fischwachstum um bis zu 25 Prozent in den kommenden Jahrzehnten reduzieren wird.

Lösungen, so der aktuelle IPBES-Bericht, erfordern einen ganzheitlichen Ansatz für die Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, die den Menschen und sein Lebensumfeld in den Mittelpunkt stellen. Dazu gehören unter anderem die Beendigung des Hungers, der Schutz des Lebens an Land und in den Ozeanen, die Sicherung der Gesundheit und die Eindämmung des Klimawandels. Nach Ansicht des Weltbiodiversitätsrats können diese Probleme nur gemeinsam und auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse in Kombination mit gesellschaftlichen Veränderungen gelöst werden. Eine große Rücksichtnahme auf die Vielfalt des Lebens ist heute jedoch überall auf der Erde notwendig - hier und dort, auch dort, wo die Veränderungen nicht direkt vor unseren Augen stattfinden. Nicht nur wegen seiner Vorteile, sondern auch wegen der Notwendigkeit eines ausgewogenen Zusammenlebens aller Lebewesen auf der Erde müssen wir das Artensterben sofort stoppen.

Weitere Informationen: www.awi.de.