"Kraftwerk" ohne DNA

Algen aus der Gruppe der Dinoflagellaten haben ihr genetisches Material auf ungewöhnliche Weise organisiert

Die Zellen der meisten Lebewesen haben spezielle Strukturen, die für die Energieproduktion zuständig sind. Diese sogenannten Mitochondrien haben in der Regel ihr eigenes Genom, zusätzlich zu dem im Zellkern. Uwe John vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) und seine Kollegen haben jetzt bei einem einzelligen Parasiten eine bisher einzigartige Ausnahme entdeckt. Die Mitochondrien des Dinoflagellaten Amoebophrya ceratii scheinen auch ohne eigenes genetisches Material zu funktionieren, berichtet das Team in der Zeitschrift Science Advances.

Dinoflagellaten machen einen großen Teil des Planktons in den Meeren aus. Etwa die Hälfte der rund zweitausend bekannten Arten betreibt wie Pflanzen Photosynthese, andere leben räuberisch oder wechseln je nach Angebot zwischen verschiedenen Ernährungsweisen. Und schließlich hat diese vielseitige Algengruppe auch Parasiten in ihren Reihen. Mit einer solchen Mannschaft hat das Team um Uwe John nun einen Blick in das Genom geworfen - und eine Überraschung erlebt.

Die Forscher haben ihr Studienobjekt in den Zellen anderer Dinoflagellaten der Gattung Alexandrium gefunden. Dazu gehören mehrere Arten, die bei Massenentwicklungen dazu neigen, giftige Algenblüten zu bilden. Ganze Teppiche aus diesen Einzellern treiben manchmal im Wasser und produzieren das Nervengift Saxitoxin, das auch für den Menschen gefährlich ist. Aber es gibt Parasiten, die solche Algenblüten eindämmen können. Dazu gehört eine Art namens Amoebophrya ceratii, die im Mittelpunkt der aktuellen Studie stand.

"Diese einzelligen Organismen schwimmen als sogenannte Dinospora durch das Wasser, bis sie ihren Wirt finden", erklärt Uwe John. Wenn es soweit ist, heften sie sich an ihr Opfer, dringen in dieses ein und fressen es von innen auf. Sie werden größer und größer und bilden ein Stadium mit vielen Zellkernen. Wie ein Wurm krabbelt es schließlich aus dem toten Wirt heraus und zerbricht in 200 bis 400 neue Dinosaurierstacheln. Ein solcher Infektionszyklus dauert nur drei bis vier Tage und kann die Alexandrium-Populationen massiv beeinflussen.

Das Team hat das Genom des Giftalgen-Eroberers sequenziert, das aus etwa 100 Millionen Basenpaaren besteht. Das ist sehr wenig für einen Dinoflagellaten. Nun ist ein kleines Genom für einen Parasiten nichts Besonderes. Viele Anhänger dieser Lebensweise stellen nicht alle zum Überleben notwendigen Stoffwechselprodukte selbst her, sondern nutzen ihre Wirte. Das macht sie von diesen abhängig, kann aber auch auf viele Gene verzichten. Doch Amoebophrya ceratii ist diesen Weg nicht gegangen. "Bei dieser Art funktionieren fast alle Stoffwechselprozesse so, dass sie eigentlich alleine zurechtkommen müssten", sagt Uwe John. Und das tut sie mit einem viel kleineren Genom als alle anderen Dinoflagellaten.

Sie hat diese Reduzierung besonders weit in dem Teil des Genoms vorangetrieben, der außerhalb des Zellkerns liegt. Bei Pflanzen und Algen befindet sich die DNA nicht nur in den Mitochondrien, sondern auch in den Plastiden, die sie für die Photosynthese benötigen. Ihr Genom ist bei Dinoflagellaten im Allgemeinen recht klein und besteht aus nur 14 Genen. Amoebophrya ceratii scheint jedoch die Plastiden und, mit einer Ausnahme, auch deren Gene komplett abgeschafft zu haben.

Noch spektakulärer ist das Sparprogramm, das sich der Parasit bei seinen Mitochondrien auferlegt hat. In seiner Verwandtschaft befinden sich noch drei Gene in der DNA dieser kleinen Zellkraftwerke. Amoebophrya ceratii hat offenbar das gesamte mitochondriale Genom gerettet. Trotz aller akribischen Sucharbeit hat das Team keine Spur davon gefunden. Zwei Gene sind offenbar verschwunden, das dritte, Cytochrom c-Oxidase 1 (COX1 oder COI), ist in den Zellkern gewandert. "Das hat mich wirklich überrascht", sagt Uwe John, "denn bisher ist kein anderes sauerstoffatmendes Lebewesen bekannt, das sein eigenes genetisches Material nicht in seinen Mitochondrien hat."

Diese Sparsamkeit könnte praktisch sein, wenn die Parasiten schnell viele neue Dinosauriersporen erzeugen müssen. "Es könnte effektiver sein, alle Prozesse über den Zellkern zu steuern", sagt Uwe John. "So können wahrscheinlich die Ressourcen des Wirts optimal genutzt werden." Allerdings wäre nichts gewonnen, wenn die Energieversorgung zusammenbricht. Doch diese Gefahr scheint nicht zu bestehen: Die Mitochondrien funktionieren in allen Lebensstadien gut und ermöglichen den Dinosauriern auf Wirtssuche sogar ein schnelles Schwimmen. "Diese Parasiten haben wahrscheinlich ihren eigenen Weg gefunden, Energie zu erzeugen", sagt Uwe John. "Sie benötigen nur einen Teil der fünf bekannten Proteinkomplexe, die in den Mitochondrien von Menschen und allen Tieren zu finden sind, um Energie zu erzeugen."

Die Forscher hoffen, dass diese Erkenntnisse dazu beitragen, die Evolution der Dinoflagellaten und ihrer Verwandten insgesamt besser zu verstehen. Das wäre auch deshalb interessant, weil zur Verwandtschaft dieser Algen auch andere Parasiten und die Erreger von Krankheiten wie Malaria gehören. Außerdem könnten die Ergebnisse neue Erkenntnisse über die Geschichte der Mitochondrien und Plastiden liefern. Beide waren ursprünglich eigenständige Lebewesen, die von jeher von anderen einzelligen Organismen geschluckt wurden und in ihnen als sogenannte Endosymbionten weiterlebten. Im Laufe der Zeit haben sie ihr genetisches Material geschrumpft und sind zu Dienstleistern von Zellen geworden, die alleine nicht mehr lebensfähig sind. Diese Entwicklung hat Amoebophrya ceratii jedoch auf die Spitze getrieben und seinen Endosymbionten auch die Reste ihrer genetischen Autonomie genommen.